Wiener Jänner 1992

Der Traum ein Leben -
das Leben ein Traum

Schwarz und Weiß. Gut und Böse. Jeder spielt eine Rolle. Der eine spielt die ganze Woche eine graue “Maus”, der andere ist ein “großes Tier”. Am Wochenende setzt sich die graue Maus aufs hohe Roß, und das große Tier wird sein Steigbügelhalter. In einer Festung im Wienerwald wird die Fantasiewelt zur Realität. Für 430 Schilling. Recherche: Ossi Hicker. Text: Gerald Teufel. Fotos: Christiano Tekirdall.

Die Feste Wildegg bei Sittendorf im südlichen Wienerwald. Kaltes Mondlicht bleicht das bröckelnde Gemauer, ein gar schauderbarer Anblick. Erschröcklich dunkel dräut der finstre Schlund den nächtlichen Gast zu verschlingen. Der Happen verschwindet im gräßlichen Maul, passiert die Gitterzähne unbeschadet, wird quasi hinuntergewürgt durch eine lange schale Speiseröhre.
Ein schwarzer Kapuzenman an einem Tisch mustert das arme Würstchen. Wer? Von welchem Geschlecht? Woher? Und was das Begehr des Fremden sei. Name und Art des Ankömmlings wird sorgfältig in einem Buch vermerkt. Neben der Feder beherrscht der Schreiber aber auch noch anderes Handwerkszeug. Ein riesiger Streitkolben lehnt in Griffweite neben ihm an einer Säule.
“Nun gut denn, seid willkommen!” entbietet der Finsterling altertümelnd mit geschwollener Zunge schließlich seinen Gruß.
Na gut, dann rein ins Vergnügen. Über ausgetretene Stufen stolpert der Abenteurer hoch. Im engen Stiegenhaus poltert einem dann einer mit zwei schweren Siebenmeilenstiefeln entgegen. Eine unheimliche Begegnung der komplett anderen Art. Zumal der Kerl über seinem Kettenhemd mit einem ge- hörnten Totenschädel heruntergrinst. Aber anstatt zu seinem großmächtigen Schlachtschwert zu greifen, hebt der grimmige Geselle den Humpen, nimmt einen tiefen Schluck. Kurz gerülpst und dann weitergepoltert.
Endlich oben, ist man vollends in der bizarren Welt des Märchens. Eine sagenhafte Gesellschaft. Da schweben Ahnfrauen durch den Kreuzgang. In einer Ecke hockt regungslos ein kleiner Wicht. Ein Hofnarr? Die Brille sitzt fest auf der Nase wie bei Woody Allen. In der Linken hält er einen dünnen Stab, geschmückt mit zwei schwarzen Hahnenfedern. Ein Schwarzmagier? Aus einer Kemenate dringt scharf Schwerterklirren. Ein Mann und eine Frau kreuzen die Klingen. Geschickt ein Ausfall der streitbaren Amazone. Mylady trifft den Rumpf ihres Gegners. Duke Glenfiddich gesteht seine Niederlage. Galant reicht er der Siegerin die Hand und führt sie in die Burgschenke.

“Ariochs Erben”, stand auf der Einladung zu dem pittoresken Treiben, “laden alle Festhungrigen und Spielwütigen zu einem infernalischen Burgfest” auf Wildegg bei Sittendort. Neben einem Festbankett versprach der Veranstalter auch noch “heiße Rhythmen für kesse Beine”. Kostenpunkt: 430 Schilling fürs ganze Wochenende. Kein teurer Spaß also.
Das mittelalterliche Spektakel der Zauberer und Recken, der Trolle, Wichte, Monster steht in einer langen Reihe von derartigen Lustbarkeiten. Im Burghof kreuzen die Recken Ihre Klingen, als würden sie für König Artus' Tafelrunde kämpfen. “Vor zirka drei Jahren hatten wir die Idee, eine Geburtstagsparty, die zufällig in den Fasching fiel, als Fantasy-Party zu gestalten” erklärt Ralph Schimpl, Obmann des Ersten Öterreichischen Live-Rollenspiel-Vereins, der sich nach Arioch, einer Figur des Fantasy-Autors Michael Moorcock, benannt hat.
“Durch die Begeisterung vieler Freunde angespotnt, haben wir im Sommer 1988 das erste mehrtägige Fantasy-Live-Rollenspiel in Eggern (Waldviertel) veranstaltet”, sagt Schimpl. Der Verein hat in Österreich jerzeit 63 Mitglieder. Regelmäßig veranstaltet werden “Kampfseminare”, in denen das rollengerechte Spiel geübt werden soll. Im Fundus stapeln sich an die 200 Posten: Masken, Waffen und Kostüme. Prunkstück des zum Großteil selbstgebastelten fantastischen Mummenschanzes - ein Alchimistenlabor.

In der Burgschenke erzäht Gunnar Gunnison, der “Zwerg auf Todesmission”, Unglaubliches. “Der mächtige Alkazar schlug sich auf die Seite der Zwerge und fiel vor einigen Wintern zu Belegard im ehrenvollen Kampf.”
Erein Enrenbados, transultimativer Apostel der antisekularen Konklave der Kleriker, ist Hüter der heiligen Rüstung des seligen Alkazar. Er trägt sie mit Stolz auf einem Holzkreuz immer vor sich her, die Rüstung - ein modisch gelb-weiß-gestreifter Bademantel.
Der Kopf der Bande aus Whisky-Valley ist auch da, allerdings schon lange getrennt von seinem zugehörigen Körper. Dennoch beugen sich seine Gefolgsleute immer noch den Befehlen aus dem Jenseits.

Lauter Verrückte!?
Michael, der Fundusverwalter: “Verrückt sind wir sicher nicht! Nur ein bisserl spinnert.” Der “Zwerg auf Todesmission” heißt eigentlich Klaus und verdient sich seine Brötchen “normalerweise” als Vertragsbediensteter der Grazer Stadtwerke. Sein Geschäft ist das Ablesen von Gaszählern. Dabei stieß er eines Tages in einem Kellergewölbe auf eine rostige Rüstung. Und weil der frühere Besitzer spurlos verschwunden war, schlüpfte Klaus in den Schrottmantel. Der transultimative Apostel nennt sich vulgo Gottfried und studiert Betriebswirtschaftslehre.
Der Einzelhandelskaufmann fühlt sich am Wochenende dazu berufen, andere Spieler hinterrücks zu meucheln, der EDV-Student mutiert zum füchsigen Dieb, dem es nur um Gold geht. “Das ist der Reiz am Rollenspiel, daß jeder das ausleben kann, was er an heimlichen Ängsten und unheimlichen Aggressionen in sich trägt”, analysiert Romy, die ansonsten für Greenpeace Umweltskandale recherchiert.

In seiner Diplomarbeit “Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen - neue Formen der Gruppenarbeit” schreibt Hermann Ritter: “Durch die Konfrontation mit verschiedenen wichtigen Lebenssituationen, z.B. Krankheit, Tod, Verletzungen, beschäftigt sich der Spieler geistig mit diesen Situationen.”

So weit die Phantasie auch schweift, so fern das Land auch sein mag, in dem die Rollenspieler leben, sie sind strengen Gesetzen unterworfen, und die sind im “Codex Ariochis” verzeichnet.
Es gibt keine Sieger und keine Verlierer. Alles nur Theater! Jeder ist Schauspieler und Zuseher zugleich. Bei jedem Spiel führt einer Regie. Sozusagen der Geist über den Wassern. Er entwirft das “Drehbuch”, er zieht die Fäden, übernimmt die Inszenierung.
Jeder Spieler verfügt über Eigenschaften: Stärke, Geschicklichkeit, Intelligenz und Aura. Ein Charakter wird geboren, indem ihm nach einem ausgeklügelten Punktesystem seine “Talente” zugemessen werden. Das sind alle erdenklichen Waffen und Zauberkräfte.
Die Lieder des zum Barden Geborenen beeinflussen die Gefühle. Wenn er etwa sein “Lied des Abscheus” singt, zeigen die Zuhörer spontan große Abscheu vor Waffen. Mit seinem “Lied des Spottes” kann er sich an den Herrschern rächen, die ihn geringschätzig behandelt haben. “Bei längerer Dauer des Liedes kommt es wahrscheinlich zur Rebellion.” (Zitat “Codex Ariochis”)
Ganz anders ist der Berserker geartet. Im Kampf greift er, ständig brüllend, alle im Umkreis möglichen Ziele an.
Der Kleriker wiederum kann im Gebet Kontakt mit seinem “Gott” aufnehmen. Die Göttin der Nacht verleiht ihren Adepten zum Beispiel astrologische Kenntnisse und das Wissen im Umgang mit Giften. Sie verlangt dafür blinden Gehorsam. “Es heißt, daß der, der ihr wahres Antlitz sieht, sofort wahnnsining wird.” (Codex)
Wer in den Bann des “Liebeszaubers” gekommen ist, verliebt sich bis zum Ende der “Periode” in den Spruchsprecher. Eine “Periode” dauert gewöhnlich zwölf Stunden. Von Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang.
Die gefährlichsten Waffen der Magier sind ihre Flüche. Wen der “Fluch des Verrottens” trifft, der wird immer schwächer und stirbt zu Beginn der nächsten Periode. Das Opfer wird zum Zombie. Magier können dem bösen Schattenmonster befehlen: “Töte den Sowieso!”
Man kann aber nicht nur sein “Leben” bei diesem Spiel verlieren, sondern auch seinen “Verstand”. Der Verhexte wird schwachsinnig. Zitat Regelwerk: “Der Betroffene sinkt auf die Intelligenzstufe eines Tieres und kann nur mehr Grunzlaute von sich geben.”
Jeder hält sich strikt ans Reglement. Wohl oder übel. Und wenn der Magier seinen Spruch murmelt, hat man nicht dagegen zu murren. Manches wirkt natürlich für Außenstehende etwas absurd. Die Dame mit dem weißen Tuch in ihrer hoch erhobenen rechten Hand ist also unsichtbar! Präzise enthüllt der Codex dem Uneingeweihten ein verblüffendes “technisches Detail”: “Ein Unsichtbarer ist nicht wirklich unsichtbar, d. h. durchsichfig.” Natürlich gibt es gelegenffich auch kleinere Auslegungsunterschiede. Kann sich der vom wilden Watz gebissene Held noch ans Ufer treiben lassen oder muß er von seinem schweren Kettenhemd belastet mitten im See ersaufen?

Die Übernachtung “drei Meilen hinter Weihnachten” kostet fünf Kupferstücke. Dagegen ist eine schmucke Burg nicht unter 2000 Goldstücke zu haben. Merke! Das Handbuch verzeichnet penibel den Wechselkurs: Ein Goldstück ist gleich ein Blauer.
Für einen Totenkopfhelm verlangt der Maskenbildner Peter Pavlovsky knappe zwei Goldstücke. Er fertigt alle Arten von Helmen aus glasfaserverstärktem Kunststoff. “Schicken Sie uns ein Foto oder eine Zeichnung Ihres Helmes, und wir werden die Idee in die Tat umsetzen.” Unverkäuflich ist sein aus 30.000 Gliedern in 150 Arbeitsstunden “gestricktes” Kettenhemd. Für das Fantasy-Live-Rollenspiel braucht man aber sowieso kein echtes Kettenhemd. Zwar finden sich im Versandkatalog der deutschen “Drachenschmiede” auch durchaus scharfe Schwertnachbildungen. Für so ein Prunkstück blättert der Liebhaber ja gerne an die 42.000 Schilling hin.
Im Land der Fantasie indes kämpfen die Helden lieber mit Latexäxten und Schaumgummikeulen. Eiserne Regel: “Jeder Spieler muß damit einverstanden sein, daß die Sicherheit der von ihm benutzten Waffen an ihm selbst ausprobiert wird.” Verletzungen sind praktisch ausgeschlossen.
Peter Pavlovsky gibt sich mit “solchen Kindereien” nicht ab. Er bevorzugt blanken Stahl bei seinen ritterlichen Schaukämpfen.
Scharfe Angriffe gegen die Rollenspieler kommen von seiten der Kirche.
In den USA, wo schon vor Jahren der Run auf die “Fantasy plays” die Mitglieder der “Moral Majority"” zur Gegenoffensive trieb. Die Prediger redeten sich den Mund füsselig, um vor den “Spielen mit dem Feuer” zu warnen. Mit Sektiererei oder Satanismus aber führen die Rollenspieler wenig im Schilde.
Auch in der Alpenrepublik kann einem Jäger oder Oberförster schon vor der wilden Jagd grauen, wenn er diesen seltsamen Vögeln begegnet, die im Wald und auf der Heide nur ihre Freude suchen.
Mitunter kommt es auch zu grotesken Begegnungen von Kämpfern aus zwei völlig anderen Welten. Eine Störung der Zeitmaschine?
“Eines schönen sonnigen Tages, als wir wieder einmal den dunklen Tann auf der Suche nach Trollen durchkämmten”, erzählt Romy (Spielername Tullamore Dew), “stießen wir unvermutet auf eine Gruppe von sonderbar Gewandeten, die sich in den Büschen zu bergen suchten. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt und um ihre Helme trugen sie Netze voll Gezweig...”
Es waren Soldaten des österreichischen Bundesheeres beim Manöver.

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