Tundara

D ie Gebiete, über deren Bewohner hier berichtet wird, liegen im Norden an der Küste des Eismeers, zwischen den Ausläufern des Drachenrückens und Goldland und haben etwa 2/3 der Größe Nordlands. Bekannt sind sie unter dem Namen Tundara, doch wer dort lebt, hat noch viele andere Namen dafür bereit, in denen irgendwo immer ein Wort für Kälte/Eis oder Dunkelheit/Einsamkeit vorkommt.

Die Landschaft ist schroff-hügelig mit engen Fjorden und großen Seen. In einigen gemäßigteren Tälern haben sich seit ca. 400 Jahren Familien von Auswanderern aus Sturmland, Whiskey-Valley und den Tunguska-Nomaden angesiedelt, denen ihre Herkunft längst egal ist. Immer noch kommen gelegentlich Fremde, die die Einsamkeit und Frieden fern der höfischen Etiquette und wilder Saufgelage suchen. Man kann sie in zwei Gruppen teilen. Diejenigen, die sich einem Dorf anschließen und die anderen, die recht bald verschwinden. Das Land mag keine Einzelgänger. Es verzeiht keine Fehler.

Die Dörfer, allesamt mit 20 - 50 Einwohnern, schmiegen sich in Talmulden, an Thermalquellen oder unter Bergüberhängen. Die Nähe zu Flüssen wird wegen der frühsommerlichen Schneeschmelze tunlichst gemieden. Es handelt sich um enge Gemeinschaften, die einem Fremden zwar nie die Gastfreundschaft für eine Nacht oder zwei verweigern würden, darüber hinaus aber zu Unbekannten überdurchschnittlich verschlossen und allem Neuen gegenüber mißtrauisch sind. Das ist besonders überraschend, da doch die eigentliche Macht von den Frauen (Herdherrscherinnen) ausgeht. In einem Thing, zu dem Männer nicht einmal als Zuhörer zugang haben, werden alle Belange der Gemeinschaft entschieden, von der Einteilung der Arbeit bis zur Wahl über die Aufnahme neuer Bewohner und Heiratskandidaten, was eine der wenigen Möglichkeiten ist, in ein Dorf aufgenommen zu werden, ohne dort geboren zu sein.

Die Einteilung der anfallenden Aufgabe ist eine der wichtigsten Entscheidungen. Die langen Winter (alle übrigen Jahreszeiten drängen sich in die drei Monate Juni bis August) erforden große gesicherte Vorräte. Es kann vorkommen, daß ein Dorf durch einen Nagetiereinfall verhungern muß, besonders wenn die Wege infolge heftiger Schneestürmen unpassierbar werden oder die nordländischen Piraten auf einem Beutezug vorbeischauen. Diese wilden Barbaren mit ihren Drachenschiffen waren bis vor ca. einer Generation eine wirkliche Gefahr. Deshalb sind die Dörfer für nicht Eingeweihte kaum erkennbar. Ihre Lagerstellen sind nur allzu leicht mit einer Schwefelquelle zu verwechseln und die Rentierherden gleichen den Wildtieren.

Das Land ist nur dünn besiedelt. Seine Bewohner ernähren sich von Fischfang, Fallenstellerei, Rentierzucht, dem (geringfügigen) Handel mit Schwefel, Fellen, Leder, Wollbekleidung und Wolfshunden. Die Rasse der Mabrass, in den südlichen Regionen als "Schwarzer Tod" berühmt/berüchtigt, zeichnet sich durch massigen, hohen Wuchs, kräftige Kiefer, feine Instinkte und Furchtlosigkeit aus. An vielen sturmländischen Fürstenhöfen werden Mabrass als Unterstützung der Wachmannschaften eingesetzt. Ihre Zucht ist zwar auch außerhalb der Fjorde möglich, doch sind die Nachkommen bei weitem nicht mehr so zäh wie ihre nordischen Elternteile.

Die Einwohner sind durch ihre Nähe zur Natur und den Entbehrungen des Lebens meilenweit vom Glauben an einen einzigen, gütigen Gott entfernt. Vielmehr sehen sie in den Erscheinungsformen der Natur geheimnisvolle, mächtige Wesen, die verschiedene Prinzipien vertreten, weit facettenreicher als bloß Gut und Böse. Jedes dieser Wesen hat mehr oder weniger Einfluß auf sie, auch wechselt die Stärke im Jahresablauf. So ist die Kraft des Sonnengeistes im Spätfrühling im Wachsen begriffen, während der Einfluß des Hausgletschers natürlich im Herbst zunimmt.

Über all diesen Naturgottheiten stellen sie, zumindest die Frauen, die Oberhoheit der Erdgöttin über den Rest der Schöpfung. Sie repräsentiert das weibliche Prinzip, das Land, die Natur, alle Wesen, gute wie böse, beruht auf einem uralten Glauben, dessen Ursprung vergessen ist, aber definitiv bereits vor der Besiedlung durch Menschen bestand. Manchmal tritt sie auch in einer ihrer dreiteiligen Formen "junges Mädchen/reife Frau/Greisin" auf. Daß der Glaube an die Erdgöttin sich bei den Männern naturgemäß schwertut, ist wohl verständlich.

Die Stellung der Männer scheint nun sehr untergeordnet zu sein. Doch das stimmt so nicht, denn in Krisenzeiten wird einem kräftigen jungen Mann (Waffenherrscher) für eine bestimmte Aufgabe oder eine festgesetzte Zeit die absolute Macht übergeben.

Überall im Land finden sich Ruinen unbekannter Siedler. Niemand weis genaueres über sie, auch scheinen die alten Gemäuer keine Gefahren außer Steinschlag zu bergen, also verwendet man die Steine für neue Bauwerke. Einige werden auch als Orte für Zeremonien oder überregionale Feste verwendet. Da die Menschen sie nicht gebaut haben, besizten sie auch keine besondere Beziehung zu ihnen.

Die Gefahren für den einsamen Wanderer hingegen sind gar manigfaltig. Überraschend heftige Herbststürme zwingen ihn manchmal dazu, wochenlang irgendwo Unterschlupf zu suchen. Wilde Mabrass- oder Wolfsrudel und riesige weiße Bären betrachten ihn als willkommene Ergänzung ihres Speisezettels. Sumpflöcher, die entstehen, wenn der Permafrostboden im Frühsommer auftaut oder der Eisbruch in den Fjorden und auf den Flüssen forden ebenso ihren jährlichen Tribut wie falsche Vorbereitungen eines Dorfes und daraus bedingter Brennstoff- und Nahrungsmängel. Ohne den anhaltenden Zustrom von Einwanderern würden die Dörfer innerhalb zweier Generationen großteils leerstehen.

Ein typisches Dorf besteht aus einer Gruppe von kuppelförmigen Hütten, die mehrere seitliche Ausbuchtungen besitzen. Durch einen kurzen Gang gelangt man in den, durch einem schweren Teppich abgetrennten, kreisrunden Hauptraum, in dessen Zentrum in einer befestigten Herdstelle das Feuer brennt. Der Boden besteht aus gestampften Lehm und rund um das Feuer ist der Rest des Raums von einem etwa halbmeter hohen Holzpodest bedeckt, auf dem Felle und Teppiche liegen. Hier hält sich die Familie tagsüber auf. Von diesem Zentralraum zweigen mehrer Schlafkammern ab, die in etwa 1 Meter Höhe durch eine kreisrunde, teppichverhangene Öffnung mit ihm verbunden sind. Besucher übernachten neben dem Feuer.

Wem das Leben hier nun allzu beschwehrlich erscheint, kennt noch nicht die schönen Seiten. Die Natur ist in den drei Monaten des Nicht-Winters überschwenglich in ihrer Pracht und Vielfalt, die Menschen bilden starke Gemeinschaften und wissen Feste zu feierern, als wären es ihre letzten und obwohl sie eher zu den schweigsamen gehören, hat das, was sie sagen, Gewicht und sie verfügen über einen großen Schatz an Sagen und Abenteuern, die sie abwechselnd an den Winterfeuern erzählen. So ist auch eines der wertvollsten Geschenke, die ein Wanderer mitbringen kann, das Wissen über Neuigkeiten und unterhaltsame Geschichten, die den Winter verkürzen. Denn manchmal steigt hier die Sonne für viele Tage nicht über den Horizont.

Ian McMulligan, Pelztierjäger aus Trap-Nor

Abenteuer:Tundara 1: Die Schwarzen Frauen (1996)
Tundara 2: Die Rückkehr (1997)
Tundara 3: Feste Nordmarkstern (2001)
Tundara 4: Der Schrei des Raben (2001)